Editorial „Soziale Fortschrëtt“: Krise? Wer spricht denn von Krise?

Das Tripartite-Abkommen, der „Solidarpack“, wurde am 31. März 2022 unterzeichnet. Wenn man jedoch einige Veröffentlichungen und publizierte Stellungnahmen liest, könnte man den Eindruck erhalten, dass die geführten Verhandlungen hinfällig oder sogar überflüssig waren und es sich letztlich um ein Gefälligkeitsabkommen handelt, das die Regierung und die unterzeichnenden Gewerkschaften zugunsten der kapitalistischen Arbeitgeber geschlossen haben. Durch solche Äußerungen wird die Existenz der aktuellen Krise verleugnet und die Maßnahmen, die im Tripartite-Abkommen zusammengeschnürt wurden, untergraben.

Dieser Standpunkt entspricht leider nicht ganz der Realität, um nicht zu sagen, er steht im völligen Widerspruch zur aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Situation, die stark von einer nie dagewesenen Unvorhersehbarkeit und von zunehmenden Unsicherheiten geprägt ist.

Nach zwei Jahren Gesundheitskrise, die im Übrigen noch immer andauert, hat der Krieg in der Ukraine die wirtschaftliche und soziale Situation durch einen starken Anstieg der Energiepreise, die Verteuerung der Rohstoffe und anhaltende Lieferkettenschwierigkeiten verschärft.

Daraus ergaben sich mehrere wirtschaftliche Folgen:

  • Einige Unternehmen, insbesondere die Industrie- und Logistikbranche, haben große Schwierigkeiten, ihre Produktion aufrechtzuerhalten, da diese auf einem hohen Energieverbrauch beruht.
  • Für andere Unternehmen, insbesondere im Baugewerbe und im Handwerk, stellen Lieferkettenprobleme und Preisanstiege bei bestimmten Halbfabrikaten und Rohstoffen ein erhebliches Risiko für die Fortführung ihrer Geschäftstätigkeit dar.
  • Einige Branchen, insbesondere das Hotel- und Gaststättengewerbe und die Veranstaltungsbranche, wurden im Zuge der Gesundheitskrise geschwächt.
  • Zudem wurden durch die galoppierende Inflation mehrere Indextranchen innerhalb kürzester Zeit ausgelöst. Während die letzte Indexerhöhung vor der Krise im Januar 2020 fällig war, bewirkte die Bewältigung der Krise in einem stark beeinträchtigten Umfeld den Fall einer Indextranche im Oktober 2021. Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine lösten dann im April 2022 eine weitere Tranche aus und werden wahrscheinlich im Juli 2022 zu einer weiteren Tranche führen. Und auch danach bleibt der Rhythmus der einzelnen Indextranchen sehr unvorhersehbar.

 

Letztlich sind alle Unternehmen stark von der Planungsunsicherheit der aktuellen Situation und ihrer kurzfristigen Entwicklung betroffen, sei es auf politischer oder wirtschaftlicher Ebene.

Wesentliche soziale Folgen sind nicht auszuschließen, darunter vor allem Arbeitsplatzverluste oder eine Verlangsamung des Beschäftigungswachstums bzw. eine Prekarisierung der Arbeitsplätze durch einen stärkeren Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge oder Leiharbeit.

Die Arbeitnehmer sind daher doppelt von der Krise betroffen, da sie sowohl den Verlust der Kaufkraft sowie des Arbeitsplatzes riskieren. Diese existenzielle Unsicherheit ist eine direkte Folge der Unbeständigkeit der Wirtschaft und ihrer Entwicklung.

Das Tripartite-Abkommen vom 31. März 2022 sieht deshalb mehrere Maßnahmen vor, um diesen Herausforderungen zu begegnen, eingebettet in ein Szenario aus Krisen, Unvorhersehbarkeit und Unsicherheiten, die ein Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit, des Kaufkrafterhalts einerseits, und der Existenzsicherung zahlreicher Unternehmen, die durch mehrere Krisen geschwächt sind, andererseits, geschaffen haben.

Die Diskussionen im Rahmen der nationalen Tripartite ermöglichten den Abschluss eines Abkommens mit gezielten und zeitlich begrenzten Maßnahmen, das auf einer nationalen Solidaritätsanstrengung beruht, um den Unternehmen die notwendige Planbarkeit zu geben, bestehende Arbeitsplätze zu sichern sowie das Beschäftigungswachstum zu fördern und gleichzeitig die Kaufkraft von Arbeitnehmern und Rentnern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu gewährleisten.

  • In der Vereinbarung ist festgehalten:
  • Das Indexsystem für Löhne und Renten wird als vorrangiges Instrument zur Erhaltung der Kaufkraft und des sozialen Friedens in Luxemburg bestätigt. Das Abkommen sieht weder ein Überspringen noch die Abschaffung einer Indextranche vor. Die Vereinbarung sieht lediglich eine Verschiebung der Indextranche vor, die nach den jüngsten Prognosen des STATEC im Juli 2022 fallen soll, sowie eine 12-monatige Verschiebung jeder zusätzlichen Indextranche im Jahr 2023. Dieser Abstand von 12 Monaten wurde in der nationalen Tripartite vereinbart, um den Unternehmen die notwendige Planbarkeit zu ermöglichen. Insbesondere ist zu betonen, dass die Indextranche vom April 2022 umgesetzt wurde und dass das Tripartite-Abkommen am 31. Dezember 2023 auslaufen wird. Eine Rückkehr zur aktuellen Gesetzgebung im Jahr 2024 wird daher durch die Vereinbarung bestätigt.
  • Angesichts dieser punktuellen Anpassung des Indexsystems sieht das Tripartite-Abkommen im Gegensatz zu früheren Beschlüssen zur Indexverschiebung zum allerersten Mal einen Ausgleichsmechanismus in Form einer Energiesteuergutschrift (CIE) für ansässige Arbeitnehmer, Selbstständige und Rentner sowie Grenzgänger mit geringem und mittlerem Einkommen vor. Ein Äquivalent zum CIE, das dem Höchstbetrag von 84 €/Monat entspricht, wird zudem Empfängern des Einkommens zur sozialen Eingliederung (REVIS) und des Einkommens für schwerbehinderte Personen (RPGH) zuerkannt.
  • Für das Jahr 2023 hat sich die Regierung verpflichtet, erneut eine nationale Tripartite einzuberufen, falls sich die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert bzw. eine zusätzliche Indextranche ausgelöst wird. Zudem ist eine erneute Entschädigung vorzusehen, falls eine zusätzliche Indextranche in 2023 verschoben wird.

 

All diese Maßnahmen stehen im Einklang mit den Hilfen und Maßnahmen, die zu den kritischen Zeitpunkten der Gesundheitskrise eingeführt wurden. Die seit März 2020 gewährten Hilfen waren nur dank beträchtlicher Haushaltsmittel möglich, die durch die dynamische Entwicklung unserer Wirtschaft und die Resilienz bestimmter Wirtschaftsbereiche, darunter insbesondere des Finanzplatzes, geschaffen wurden.

Je nach Verlauf der Ereignisse könnten die Unvorhersehbarkeit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und alle damit verbundenen Unwägbarkeiten weitere Maßnahmen erforderlich machen.

Letztendlich stellt dieses Tripartite-Abkommen einen Kompromiss zwischen den drei an den Verhandlungen beteiligten Parteien dar. Es ist einfach, dieses Abkommen zu kritisieren, aber dann muss man auch Alternativen aufzeigen können. Was in der derzeitigen Situation völlig inakzeptabel ist, ist die Tatsache, dass manche Menschen die Existenz der aktuellen Krise leugnen!

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