Fast heimlich ist die EU-Kommission am 31. Dezember 2021, kurz vor Mitternacht, im Rahmen der Diskussionen zur Finanztaxonomie – einer Art Öko-Label für den Finanzbereich der ökologisch nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten auflistet – vorgeprescht um hochkontroverse Atomkraft- und Erdgasaktivitäten als nachhaltig und damit als besonders investitions- und förderwürdig zu klassifizieren.
Das Aktionskomitee sieht es als überaus wichtig an, diesen Kommissionsentwurf zurückzuweisen, da er sowohl in Punkto rechtliche Form als auch in Punkto Inhalt sehr problematisch und weder mit den Grundprinzipien der Finanztaxonomie-Verordnung noch mit dem Erreichen der EU-Klimaziele vereinbar ist. Sogar der von der EU-Kommission eingesetzte Expertenbeirat für nachhaltige Finanzen lehnt diesen Entwurf ab.
Wir freuen uns, dass sich am 14. Juni bereits in den zuständigen ENVI und ECON-Ausschüssen (Umwelt und Wirtschaft) des EU-Parlaments eine klare Mehrheit der Abgeordneten für eine Ablehnung des Kommissionsvorschlages zur Nachhaltigkeitsklassifikation von Atom und Gas ausgesprochen hat. Mit Blick auf die entscheidende Plenar-Abstimmung in der ersten Juliwoche appellieren wir deshalb an die luxemburgischen EU Abgeordneten nicht nur selbst gegen den Kommissionsvorschlag zu stimmen, sondern bis zur Abstimmung noch möglichst viele andere Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen davon zu überzeugen, sowohl die nachhaltige Klassifikation der Gas- und Atomaktivitäten als auch die demokratisch gesehen äußerst problematische Vorgehensweise der EU Kommission abzulehnen, da letztere hier eine hochkontroverse politische Entscheidungen mittels einem dafür nicht vorgesehenen „delegierten“ Rechtsaktes erzwingen will.
Die Argumente der pro-Atom Organisationen, Firmen und Verbände, die 10 Jahre nach Fukushima leider wieder recht erfolgreich auf der politischen Bühne, in der Presse und in den sozialen Medien verbreitet werden, lauten: Atomkraft sei sicher, billig, klimafreundlich und deshalb für eine schnelle Dekarbonisierung der Energieversorgung unentbehrlich. Die weltweit bekannten Fakten belegen allerdings eher das Gegenteil.
Als Nationales Aktionskomitee gegen Atomkraft möchten wir daran erinnern, dass die Atomtechnologie nicht nur zu gefährlich, zu teuer, zu langsam verfügbar und keine gangbare Lösung für die Klimakrise ist – nicht mal als Übergangslösung – sondern die EU in Punkto Brennstoff ebenfalls komplett abhängig vom Ausland macht.
Es wird in den Medien kaum erwähnt, aber es gibt kein aktives Uranbergwerk in der EU und rund 40 Prozent der europäischen Importe von natürlichem Uran kommen aus Russland sowie dem alliierten Kasachstan. Weitere 20% stammen aus dem Niger. Darüber hinaus produziert Russland 26 Prozent des in der EU benötigten angereicherten Urans und ganze 18 EU-Reaktoren (in Finnland, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Bulgarien) können nur mit sechseckigen russischen Brennelementen betrieben werden. In der Schweiz beziehen sogar 2 von 3 AKW Uran für Brennelemente direkt vom russischen Staatskonzern Rosatom, dem zweitgrößten Uranproduzenten der Welt – hinter dem kasachischen Urankonzern Kazatomprom (Quellen: EURATOM Jahresbericht 2020; Uran Atlas 2022).
Die Begründung der EU-Kommission, dass Atomkraft Europa unabhängiger von Gas-Importen machen würde, hat sich deshalb spätestens mit dem Ukrainekrieg als komplett falsch herausgestellt. Anders als behauptet, trägt Atomkraft gerade nicht zur Versorgungssicherheit bei, sondern hat die europäische Energieabhängigkeit nur noch verschärft.
Auch sieht der Kommissions-Vorschlag keine strengen „Nachhaltigkeits“-Anforderungen vor: Laufzeitverlängerungen bestehender Atomkraftwerke wie Cattenom, die zwischen jetzt und 2040 genehmigt würden, wären „grün“. Der Bau und Betrieb neuer AKW, die bis 2045 genehmigt würden, wären ebenfalls „grün“ wenn sie die “besten verfügbaren Technologien” anwenden, was bei einer Hochrisikotechnologie eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Forschung, Entwicklung und Betrieb neuer „grüner“ Nukleartechnologien wären laut Text nur mit “minimalen” Abfällen erlaubt, aber eine klare Definition, bzw. ein Schwellenwert für „minimale“ Atomabfälle wurde nicht festgelegt. Die EU-Mitgliedstaaten sollen zudem detaillierte Pläne aufstellen, um ein Endlager für hochradioaktive Abfälle in Betrieb zu haben, allerdings erst 2050 – d.h. in 28 Jahren.
Wegen ihrer komplexen und unlösbaren Probleme konnte die Atomkraft auch über 6 Jahrzehnte hinweg nie zu einer globalen Alternative werden und spielt auch heute in 4/5 aller Staaten keine Rolle. Die größte Anzahl an aktiven Reaktoren gab es global vor 20 Jahren (2002) und das beste Jahr in Punkto Stromanteil liegt schon 26 Jahre zurück (1996) (Quelle: The World Nuclear Industry Status Report 2021).
In den 1960‘er Jahren glaubte man an eine saubere und sichere Atomkraft, die bald alle Energie-Probleme der Menschheit lösen könnte und nach den Ölpreisschocks der 70’-80’er Jahre erschien die Atomenergie manchen sogar als die einzige Lösung. Dass dies weder damals noch heute der Fall war oder ist, müsste aber jedem klar sein; ebenso wie die seit 60 Jahren unveränderten Probleme, Gefahren und Nachteile dieser Technologie: Unfallrisiko mit auf Jahrzehnte verseuchten Landstrichen, Müllproblematik als „ewige“ Erbschaft an den Bürger/Steuerzahler, Atomwaffen Proliferationsrisiko, dreckiger Uran Abbau, kommerziell nicht versicherbar und ohne Subventionen auch nach 60 Jahren noch immer wirtschaftlich unrentabel – im Gengensatz zu den Erneuerbaren, AKWs als potenzielle terroristische und militärische Angriffsziele die mit großem Aufwand vor Eindringlingen, Sabotage, Drohnen, Flugzeugen à la 9/11, usw. geschützt werden müssen – alles auf Kosten der Steuerzahler.
Natürlich ist Atomstrom verhältnismäßig CO2-arm, doch einen signifikanten Beitrag zum weltweiten Klimaschutz, geschweige denn die versprochene Rettung kann die Atomindustrie in der Praxis gar nicht liefern – und das weiß sie auch. Die aktuell weit über 400 Atomreaktoren liefern lediglich 4% des weltweiten Primärenergieverbrauchs und 10% der Elektrizität, aber ihr Durchschnittsalter beträgt bereits 31 Jahre. Bevor die Atomenergie eine größere Energieproduktions-Rolle spielen könnte, müsste der rapide alternde Reaktor-Bestand zuerst einmal ersetzt werden. Doch davon kann keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: die alternden Reaktoren sollen stattdessen einfach auf 40, 50, 60 oder mehr Jahre verlängert werden, mit entsprechend steigendem Risiko.
Die Atomenergie kann auf Basis der Fakten in den nächsten 30 Jahren keine Klima-Hilfe sein – dafür ist sie zu teuer, zu langsam und zu gefährlich. Jeder der das Gegenteil behauptet ignoriert die Fakten und „hofft“ lediglich darauf, dass AKWs in Zukunft schneller gebaut, billiger und sicherer werden und sich für das Müllproblem nach 70 Jahren Atommüllproduktion endlich eine gangbare Lösung findet. In der realen Welt ist Atomenergie aber nicht nur eine Hochrisikotechnologie und ein Nischenplayer, sondern auch volkswirtschaftlicher Unsinn, viel zu langsam umsetzbar, zu kapitalintensiv und auf dem freien Markt nicht versicherbar.
Atomenergie verschlingt bzw. bindet damit dringend benötigtes Finanzkapital, Rohstoffe/Ressourcen, Wissenschaftler, Ingenieure, Handwerker, Arbeitsstunden, Forschungsgelder, usw. die alle wesentlich besser in den dringend benötigten Ausbau der Erneuerbaren, in Energieeffizienzmaßnahmen, sowie in intelligente Netzinfrastruktur und Speichertechnologien investiert wären. Sie blockiert demnach sogar den notwendigen sozial-ökologischen Transformationsprozess der Energiewirtschaft und der Gesellschaft insgesamt, ohne den ambitionierte Klimaschutzziele nicht erreichbar sind. Wie bei der Klimakrise werden die Risiken und Kosten, die sowohl die Produktion von Atomstrom als auch die Verarbeitung und Endlagerung des Atommülls mit sich bringen, auf die kommenden Generationen ausgelagert und auch das Argument einer größeren Unabhängigkeit der europäischen Energieversorgung durch den Ausbau der Atomenergie hält einer näheren Analyse nicht stand.
Die Aufnahme der Atomkraft als nachhaltige Energiequelle in die EU-Taxonomie wäre ein herber Rückschlag für eine möglichst schnelle, kostengünstige und ökologisch nachhaltige Energiewende. Wir bitten Sie deshalb, in Bezug auf die anstehende Plenarabstimmung, nicht nur selbst mit ‚Nein‘ zu stimmen, sondern auch in den eigenen politischen Fraktionen Überzeugungsarbeit zu leisten und ein EU-Atom-Greenwashing zu verhindern!
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