Editorial « Soziale Fortschrëtt »: Krisenzeiten

Die Gesundheitskrise, die die SARS-COVID-19 Pandemie ausgelöst hat, hat die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, grundlegend verändert. Sie hat viel menschliches Leid verursacht und die Folgen werden zu einer globalen Wirtschaftskrise führen, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht erlebt haben. Eine soziale Krise von einem Ausmaß, wie sie seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht mehr vorgekommen ist, könnte die Folge sein.

Die gegenwärtige Situation erfordert von den EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission eine schnelle, entschlossene und gemeinsame Vorgehensweise, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und um eine solidarische Antwort auf die Herausforderungen der steigenden Arbeitslosigkeit und der daraus resultierenden Verarmung der europäischen Bürger zu finden.

Erstmals seit 80 Jahren, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, hat die luxemburgische Regierung am 16. März 2020 den Notstand ausgerufen. Die beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung waren drastisch und hatte einschneidenden Folgen für das Leben und die Arbeit der Beschäftigten unseres Landes. Zwar haben diese Maßnahmen zweifellos zu einem erheblichen Rückgang der schwer Erkrankten und der Todesfälle geführt, doch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen werden immer deutlicher.

Die Gesundheitskrise wird eine Wirtschaftskrise nach sich ziehen, die ohne ein koordiniertes Vorgehen der Regierung und der Sozialpartner das Potenzial hat, zu einer ernstzunehmenden sozialen Krise für ansässige Arbeitnehmer sowie Grenzgänger und ihrer Familien zu werden.

Auch wenn die Schwere der gegenwärtigen Krise außergewöhnlich ist, so hat unser Land auch schon in der Vergangenheit schwierige Zeiten durchleben müssen. Konkret handelt es sich dabei um die 1970er und 1980er Jahre, die durch den Beginn der Stahlkrise ab 1974 nach der ersten Ölkrise ausgelöst durch den Jom-Kippur-Krieg gekennzeichnet waren. Es hatte sich schnell herausgestellt, dass die damalige Stahlkrise nicht nur eine konjunkturbedingte Krise war, sondern das erste Anzeichen einer bis dato nicht gekannten strukturellen weltweiten Krise in der Stahlproduktion war. Diese Krise dauerte länger als ein  Jahrzehnt und hätte in einer für unser Land gefährlichen sozialen Krise enden können.

Doch 1976 trafen sich auf Initiative des damaligen Premierministers Gaston THORN die Sozialpartner mit der Regierung zu einem dreiparteilichen Treffen, der Tripartite.

Im Laufe der Jahre konnte damals bei den Treffen der Tripartite einen Ausweg aus der Krise verhandelt werden. Kurzarbeit, Vorruhestandsregelungen, gemeinnützige Arbeit (Anti-Krisen-Abteilung) und die Wiedereingliederungszelle (CDR) gingen alle aus der Tripartite hervor. Diese Maßnahmen ermöglichten nicht nur die soziale Bewältigung des Personalüberschusses ohne Massenentlassungen in der Stahlindustrie sondern auch, durch kontinuierliche Investitionspläne, eine konsequente Modernisierung der Produktion – wobei der Übergang zum Elektrostahl- und zum Stranggussverfahren in den 1990er Jahren am prägnantesten war.

Die Umstrukturierung des Stahlsektors wurde natürlich durch die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige, wie z.B. des Finanzplatzes, erheblich erleichtert.

Im Gegensatz zu früheren Krisen (die Stahlkrisen der 1970er und 1980er Jahre, die Finanz- und Bankenkrise von 2008) hat die Gesundheitskrise fast unsere gesamte Wirtschaft verlangsamt oder sogar zum Stillstand gebracht. Die Auswirkungen auf den Export von Waren und Dienstleistungen, die sich dieses Mal weltweit abzeichnen, erscheinen mit der Zeit immer bedrohlicher.

Doch die Reaktion unseres Premierministers war nicht annähernd so entschieden wie die seines liberalen Vorgängers im Jahr 1977.

Die Information und Kommunikation mit den Gewerkschaften war alles andere als optimal und transparent. Die Videokonferenzen im März und April 2020 fanden lediglich statt, um gesonderte Themen, wie die Absicht der Bauunternehmer schnellstmöglich die Baustellen wieder zu öffnen oder die von den Gewerkschaften und insbesondere dem LCGB geforderten Verhandlungen über eine Wiederaufnahme der Arbeit (nicht nur auf den Baustellen) unter möglichst sicheren hygienischen und sanitären Bedingungen für die Beschäftigten, zu diskutieren. Dass am 14. Mai zwei getrennte Treffen mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften stattfanden, hat weder zu mehr Vertrauen beigetragen noch die Zusammenarbeit verbessert, die angesichts der Herausforderungen dieser Krise unerlässlich sind.

Heute fordern wir den Premierminister auf, seiner Verantwortung gerecht zu werden und so bald wie möglich eine Tripartite einzuberufen, damit die Maßnahmen besprochen werden, die erforderlich sind, um eine soziale Krise für die Arbeitnehmer des Landes zu vermeiden.

Das Treffen am 14. Mai wurde nur auf dringende Anfrage und Druck der drei national repräsentativen Gewerkschaften organisiert.

Die Regierung lancierte einen „Pandemie“-Gesetzentwurf ohne jegliche Konsultation mit den repräsentativen Gewerkschaften. Dies war ein schwerer Fehler. So auch die Aussage des Premierministers am Ende des Treffens vom 14. Mai, in der er die Tripartite als „Kaffieskränzchen“ bezeichnete. Starke Wörter, die keine wirkliche Demonstration von Stärke sind, vor allem nicht gegenüber allen Regierungsvertretern sowie den Arbeitgeber- und Gewerkschaftsorganisationen, die seit mehr als vierzig Jahren an den verschiedenen dreiparteilichen Treffen teilgenommen und zu Vereinbarungen und Kompromissen zugunsten eines Sozialmodells beigetragen haben, das nicht nur die Überwindung der verschiedenen Krisen ermöglicht, sondern auch entscheidend zur wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes und zur Wahrung des sozialen Friedens beigetragen hat.

Derselbe Fehler unterlief im Übrigen auch dem Minister für Arbeit, Beschäftigung und Sozial- und Solidarwirtschaft auf einer der zahlreichen Pressekonferenzen, als bekannt gegeben wurde, dass die Unternehmen, die auf Kurzarbeit zurückgreifen, 25% ihres Personals entlassen können und dass gemeinnützige Arbeiten eingeführt werden.

Diese schwerwiegenden Ankündigungen des Ministers sind weit entfernt von der notwendigen Ernsthaftigkeit, die die Schwere der Krise erfordert. Warum wurden die Einzelheiten der Organisationen und die Einrichtung solcher Strukturen nicht zunächst innerhalb der Tripartite diskutiert und verhandelt? Wer wird was und auf welcher Ebene tun? Welche Rolle spielen die Arbeitgeber, die Arbeitnehmervertreter, die ADEM, die Kommunen und gegebenenfalls die Beschäftigungsinitiativen? Wenn alle diese Fragen beantwortet sind, könnte ein eventueller Personalüberhang dann durch solche Strukturen, die der LCGB schon seit langem fordert, ausgeglichen werden.

Darüber hinaus sind diese Strukturen nur ein Teil der vom LCGB geforderten Maßnahmen zur Bewältigung des Personalüberhangs in Krisenzeiten. Das Ausleihen von Arbeitskräften, um Arbeitnehmer auf dem ersten Arbeitsmarkt zu halten, muss eindeutig Vorrang haben!

Die Ankündigung des Ministers für Arbeit, Beschäftigung und Sozial- und Solidarwirtschaft ist in Wirklichkeit eine verfrühte Annäherung an die Forderungen der Arbeitgeber und die Regierung scheint endgültig vor den Arbeitgebern und ihrer Absicht, unser Sozialmodell zu zerstören, zu kapitulieren. Darüber hinaus muss die Bemerkung erlaubt sein, dass die einzigen, die eine solche Struktur bisher nicht nur verteidigt, sondern aktiv verhandelt und an der Umsetzung solcher Maßnahmen mitgewirkt haben, die Gewerkschaften, insbesondere der LCGB, sind.

Seit Beginn der Krise hat der LCGB zwei Prioritäten für den Kampf gegen die Folgen der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die wahrscheinlich auf die Gesundheitskrise folgen werden:

  • der Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer und ihrer Familien durch klare und präzise Sicherheitsvorschriften, die eine angemessene Arbeitsorganisation angesichts von COVID-19 ermöglichen;
  • die Sicherung der Existenzen der Arbeitnehmer und ihrer Familien, insbesondere durch Erhaltung ihrer Kaufkraft und Beschäftigung.

 

Für den LCGB müssen sich die Exitstrategie aus der Gesundheitskrise und die verschiedenen Lockerungsphasen daher stets auf diese beiden Prioritäten stützen. Der LCGB hat am Ende des Treffens vom 14. Mai 2020 in einem Brief an den Premierminister seine Forderungen und Empfehlungen dargelegt, um einen sozialen Weg aus dieser beispiellosen Krise zu sichern.

Um diese Herausforderung erfolgreich zu meistern, müssen die drei national repräsentativen Gewerkschaften CGFP, OGBL und LCGB eng innerhalb der Tripartite zusammenarbeiten. Wie schon in der Vergangenheit ist der LCGB bereit, seine Verantwortung zu übernehmen und unser Sozialmodell gemeinsam mit den anderen Gewerkschaften und mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

thumbnail of Soziale Fortschrëtt 02-2020

 

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