Nach einem Jahrzehnt hat sich der Verwaltungsrat der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) auf einer außerordentlichen Sitzung am 10. November 2023 dafür ausgesprochen, den Streit um das IAO-Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts an den Internationalen Gerichtshof (IGH) zur Stellungnahme zu verweisen.
Um die Tragweite der Entscheidung des IAO-Verwaltungsrats zu verstehen, muss man kurz auf den Hintergrund dieses langjährigen Konflikts zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern eingehen und der sogar zu einer institutionellen Krise innerhalb der IAO geführt hat, da der Konferenzausschuss für die Anwendung von Standards zum ersten Mal seine Kontrollfunktionen nicht ausüben konnte. [1]
Seit 2012 weigern sich die Arbeitgebervertreter kategorisch anzuerkennen, dass das Streikrecht im Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts enthalten ist, während der Expertenausschuss für die Anwendung von Übereinkommen und Empfehlungen der IAO der Ansicht ist, dass das Streikrecht eine logische Folge des Rechts auf Vereinigungsfreiheit ist und als solches durch das Übereinkommen Nr. 87 anerkannt und geschützt wird.
Gemäß der IAO-Verfassung kann jede Frage oder jeder Streit über die Auslegung eines Übereinkommens dem IGH zur Entscheidung vorgelegt werden. Dieser Ansatz wurde im Übrigen lange Zeit von den Arbeitnehmervertretern befürwortet und von den luxemburgischen Gewerkschaften LCGB und OGBL unterstützt. Die kategorische Weigerung der Arbeitgebervertreter, die Frage vor den IGH zu bringen, führte jedoch zu einer weitreichenden Blockade innerhalb der Entscheidungsgremien der IAO. Letztere hatten nämlich vorgeschlagen, die Frage auf die Tagesordnung der 112. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) zu setzen, anstatt sie dem IGH zur Stellungnahme vorzulegen.
Für den Internationalen Gewerkschaftsbund (IGB) ist die Argumentation der Arbeitgebervertreter inakzeptabel und ein Versuch, das Streikrecht, wie es im Übereinkommen Nr. 87 verankert ist, abzuschaffen, um es später neu zu verhandeln. Umso mehr ist die Entscheidung des IAO-Verwaltungsrats, die Frage dem IGH vorzulegen, ein historischer Schritt für die Gewerkschaften und Arbeitnehmer, die all die Jahre für den Schutz des Streikrechts gekämpft haben.
Der LCGB und der OGBL, die seit mehreren Jahren fordern, dass dieser Konflikt vor den IGH gebracht wird, unterstützen und begrüßen die Entscheidung des IAO-Verwaltungsrates.
[1] IAO ruft IGH wegen Streikrechtsstreit an, in : https://www.ilo.org/global/about-the-ilo/newsroom/news/WCMS_901634/lang–fr/index.htm (consulté le 14.11.2023)
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