Editorial „Soziale Fortschrëtt“: 60

Die Europäische Union feiert den 60. Jahrestag der Römischen Verträge – die Geburtsstunde der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die sich 1993 zur Europäischen Gemeinschaft bis hin zur Europäischen Union im Jahr 2009 weiterentwickelte.

Das europäische Einigungswerk, über die unterschiedlichen Strukturen hinweg, erlebte einen enormen Aufschwung. Es war Garant für eine zunehmende wirtschaftliche Entwicklung und, zum ersten Mal in der europäischen Geschichte, für einen anhaltenden Frieden auf einem einst durch Kriege und unzählige Konflikte zerrissenen Kontinent. Der traurige Höhepunkt, die schmerzliche Erfahrung zweier Weltkriege, hat ohne Zweifel die damaligen politischen Verantwortlichen dazu veranlasst, diesen Weg einzuschlagen, der mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge begann.

Die heutige Bilanz der Europäischen Union ist ernüchternd. Einerseits hat sich Europa zwar als wirtschaftlicher Erfolg erwiesen und die Grundfreiheiten gestärkt, andererseits stößt dieses Integrationsprojekt, das seine Dynamik verloren hat und vor allem seine Fähigkeit, die europäischen Bürger zu begeistern, auf immer mehr Ablehnung, so wie bei den Briten, die 2016 in einem Volksentscheid beschlossen haben, die Union zu verlassen.

Diese Entwicklung ist das Ergebnis einer Politik derjenigen Mitgliedsstaaten, die die Grenzen geöffnet und die wirtschaftliche Entwicklung gefördert, indessen aber das soziale Europa vernachlässigt, ja sogar bewusst demontiert haben.

So wird der soziale Zusammenhalt stetig auf die Probe gestellt, exemplarisch hierfür stehen die Auseinandersetzungen beim Erlass der ersten Entsenderichtlinien für Arbeitnehmer. Hier wurde solange mit den unterschiedlichen Arbeitsbedingungen innerhalb der Mitgliedsländer jongliert, bis eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden wurde. Hinzu kommen die Herausforderungen einer entfesselten Globalisierung, auf deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt keine Antworten vorliegen oder genauer die Unfähigkeit, ja sogar die Weigerung, der Mitgliedsstaaten sich auf eine soziale Linie zu einigen, die gewisse europäische Mindeststandards für die Arbeitnehmerrechte festlegt.

Die Reaktion der politischen Verantwortlichen mancher europäischer Staaten, ihre fehlende Solidarität gegenüber den südeuropäischen Ländern bei der Bewältigung der Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, die unaufhörlichen Schuldzuweisungen gegenüber der Europäischen Union und der Kommission haben die Situation verschlechtert und der Glaubwürdigkeit dieser politischen Entscheider schweren Schaden zugefügt und den Aufstieg des Populismus aller Art angetrieben.

Die Europäische Union braucht, um weiterhin zu bestehen und für einen erneuten Aufschwung, eine feste soziale Verankerung, die auch den europäischen Arbeitnehmern die Chance auf wirtschaftlichen Wohlstand gibt, sei es bei der Kaufkraft oder den sozialen Mindestrechten, um eine würdiges Leben mit der Familie zu führen.

Unser Land befindet sich in diesem Zusammenhang in einer besonderen Situation. Wir erleben mit das stärkste Wachstum in der Europäischen Union. Und doch, obwohl wir kontinuierlich Arbeitsplätze schaffen, sinkt die Arbeitslosigkeit nicht.

Die verschiedenen Reformen, die die Regierung erarbeitet hat, sei es die Reform der Familienleistungen, des Elternurlaubs oder die anstehende Reform der Pflegeversicherung, haben nicht zu verbesserten oder neuen Leistungen für die Versicherten oder Arbeitnehmer geführt. Die Reformen sind vielmehr durch wirtschaftliche Entscheidungen geprägt, die nicht auf die Bedürfnisse und Anliegen der Bürger eingehen, sondern wirtschaftlichen Berechnungen folgen und für die nicht „Brüssel“ schuldig gemacht werden kann, da sie einzig auf nationalem Niveau beschlossen wurden.

Weit düsterer erscheint das Bild hinsichtlich der Unternehmen, die unfähig scheinen, sich der Idee einer sozialen Marktwirtschaft anzuschließen und die dreigeteilte Verwaltung und Finanzierung der Sozialversicherung in Frage stellen. In letzter Konsequenz bestreiten die Arbeitgeber sogar die Notwendigkeit der Tripartite, die unserem Land eine herausragende wirtschaftliche und soziale Weiterentwicklung in einem beispielhaften Klima des sozialen Friedens ermöglicht hat. Ohne Korrektur, wird der soziale Zusammenhalt in Europa nicht nur auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, sondern droht zusammenzubrechen. Schlimmer noch, der Bruch ist bereits in vielen Ländern Europas geschehen, nicht nur in Großbritannien.

Europa braucht, genauso wie unser Land, eine soziale Umorientierung der Politik !

Der LCGB fordert ein soziales Europa und eine umfassende Strategie, die die Bedürfnisse und Wünsche der Arbeitnehmer berücksichtigt.

Der LCGB hat sich und wird sich auch weiterhin für den Aufbau Europas einsetzen – die einzige Garantie für Frieden und Wohlstand in Europa.

Der LCGB verpflichtet sich mit allen Mitteln für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Tripartite einzustehen. Die Herausforderungen, denen unser Sozialsystem gegenübersteht, vor allem die Digitalisierung und die unsichere Zukunft Europas, dürfen keine Entschuldigung für das Ende des Sozialdialogs sein, sondern müssen ein Katalysator zur Stärkung unseres sozialen Models sein.

 

Patrick DURY

Nationalpräsident des LCGBs

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